Leseprobe

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Mebungos Einreise

Als Mebungo das Einwanderungslager von Atlantis erreichte, war er sechzehn Jahre alt. Den langen Weg vom Kongo nach Nordwesten hatte er gemeinsam mit anderen Flüchtlingen angetreten. Die meisten derjenigen, die er kennengelernt hatte, waren unterwegs zurückgeblieben, er selbst hielt durch und hatte nur ein Ziel vor Augen: Atlantis. Das Einwanderungslager lag weit außerhalb der Stadt, im Südosten, wo der felsige und steinige Untergrund am wenigsten für irgendeine Art von Bewirtschaftung geeignet war. Am Eingangstor wehten die Flaggen der EU, die das Lager finanziert hatte und auch unterhielt. Das Sicherheitspersonal jedoch stammte aus Atlantis, zu dem das Lager offiziell auch gehörte.
Als Mebungo ankam, wurde er erst einmal mit Wasser versorgt. Dann wurde er auf Rauschgift und auf Waffen untersucht, dazu musste er sich nackt ausziehen. Seine Kleider oder vielmehr das, was davon übrig geblieben war, verschwanden in einem Container. Er bekam eine mönchsartige Kutte übergezogen, nachdem er im Freien durch eine Desinfektionsdusche hatte gehen müssen.

Überall standen die schwer bewaffneten Sicherheitsleute, deshalb ließ Mebungo alles mit sich geschehen. Es hatte schon viele Angriffe von den verschiedensten Gruppen gegeben, die unter Vorgabe von politischen Gründen das Lager ausplündern wollten. Deshalb wurden Gruppen gar nicht mehr durchgelassen, sondern die Personen sofort nach der Ankunft vereinzelt. Die Wachtürme weit außerhalb des Lagers und Hubschrauber überwachten die Ankunft von Personen und Gruppen. Auch die Gruppe von Mebungo, die zuletzt noch aus fünfzig Personen bestand, wurde gestoppt und die Flüchtlinge wurden einzeln, im Abstand von einer Minute, auf den Weg geschickt.

Von der Desinfektionsdusche aus führte ein genau festgelegter Weg zur Sanitätsstation. Dort wurde ihm die Nummer 38BD11E auf die Haut durch eine Schablone aufgesprüht. Seine Kutte bekam dieselbe Nummer angenietet. Er hatte keine Papiere bei sich, wurde aber auch nicht danach gefragt und musste dann alleine in einem kleinen Raum warten. Es dauerte bis zum Nachmittag, bis endlich eine Frau in einem weißen Kittel zu ihm hereinkam. Er erschrak, er wusste zwar, dass es in Atlantis Weiße gab, aber noch nie war eine weiße Frau so nahe an ihn herangetreten. Er kauerte sich in eine Ecke und sah sie von unten herauf an. Die Frau hatte ihren Kittel bis zwischen ihre Brüste aufgeknöpft und Mebungo konnte ihre flachen Brüste erahnen. Sie wartete, bis er sie abgecheckt hatte, dann deutete sie ihm, die Kutte auszuziehen. Er verstand nicht und so zog sie an seinen Ärmeln. Mebungo ließ alles mit sich geschehen und wehrte sich nicht. Als er nackt vor ihr stand, senkte er den Kopf. Jetzt begann sie zu sprechen. Er verstand sie nicht und als er den Kopf hob, sah er, dass sie nicht zu ihm, sondern in ein kleines Gerät hineinsprach. Sie betrachtete seine Haut und seinen Körperbau. Er sah bis auf eine vernarbte tiefe Schnittwunde am Unterarm normal aus, er mochte fünfundsechzig Kilogramm wiegen und war etwa 1,70 Meter groß. Jetzt sprach sie zu ihm und versuchte ihm zu erklären, dass sie ihm jetzt Blut abnehmen musste. Sie zeigte auf eine noch neu verpackte leere Spritze und auf die Innenseite seines Ellenbogens. Einige Sekunden wartete sie, dann packte sie die Spritze aus. Nochmals zeigte sie auf die geplante Einstichstelle und wartete seine Reaktion ab. Sie nickte fragend mit dem Kopf. Er machte es ihr nach. Sie begriff es als Einverständnis und zog sich durchsichtige Plastikhandschuhe an. Mit einem Tupfer desinfizierte sie die Einstichstelle. Er hielt still, aber als sie sich mit der Spritze näherte, packte er ihre Hand und versuchte, ihr die Spritze wegzunehmen. Aber ihre sanften Worte, obwohl er sie nicht verstehen konnte, beruhigten ihn und er ließ es jetzt geschehen. Er hatte schon oft Blut gesehen und der Schmerz des Einstichs machte ihm nichts aus. Aber als sich die Spritze mit seinem Blut füllte, wurde er erneut unruhig. Sie beeilte sich und zog die Spritze ab, während sie den Tupfer auf die Einstichstelle hielt. Sie deutete ihm, die Kutte wieder anzuziehen, und verließ den Raum.
Kurz danach kam wieder ein Weißkittel herein, diesmal ein Mann schwarzer Hautfarbe, und er fasste sofort Vertrauen. Der Mann deutete ihm, ihm zu folgen. Mebungo stand auf und ging hinterher. Es ging wieder ins Freie, vorbei an den schwer bewaffneten Wachen. Er wunderte sich, dass es keine Weißen gab unter den Wachen. Der Weißkittel wies ihn an, sich in einen Jeep hinter dem Fahrer niederzusetzen. Er folgte bereitwillig, obwohl ihm jetzt nicht mehr besonders wohl war. Er war es nicht gewohnt, von anderen so intensiv kontrolliert zu werden. Ging es in ein Gefängnis? Sollte er wieder unter Drogen gesetzt werden wie im Kongo? Er hatte von Atlantis aber nur Gutes gehört und so versuchte er, seine Zweifel zu unterdrücken.
Nach einer fünf Kilometer langen Fahrt, vorbei an Wachposten und Stacheldraht, kamen sie am Quarantänelager an. Er wurde von einem mit Maschinengewehr bewaffneten Soldaten aufgefordert, das Fahrzeug zu verlassen. Seltsamerweise versuchte niemand, mit ihm zu sprechen, die Soldaten hatten wohl schon zu viel schlechte Erfahrungen gemacht. Mebungo stand vor einem dreihundert Meter langen Holzhaus. Er musste durch das Eingangstor, wo er von weiteren Bewaffneten empfangen wurde. Sie ließen ihn nochmals sich nackt ausziehen und er wurde wieder durch eine Desinfektions¬dusche geschickt, dahinter bekam er seine Kutte wieder. Durch einen langen Gang mit zahllosen Türen wurde er gelotst, bis der Bewaffnete eine Tür aufschloss. Dort musste Mebungo hinein, hinter ihm wurde die Tür verriegelt. Später bekam er durch die kleine Öffnung in der Tür Getränk und Brot. Es gab in der Kammer nur einen schmalen Holztisch, eine Pritsche mit Matratze, eine Toilette und ein Waschbecken. Als es dunkel wurde, konnte er keinen Lichtschalter finden. Nach dem ersten Tag in Atlantis konnte er nicht einschlafen, zu viel ging in seinem Kopf vor. Was würde ihm die Zukunft bringen? Würde er seine Heimat, seine Familie, sein Dorf jemals wiedersehen?


Calvins Einreise

Um diese Zeit reiste auch Roger Calvin über den Zentralflughafen ein, er kam von London Heathrow und hatte in seiner Heimat in England alles hinter sich gelassen, weil er von den guten Verdienstmöglichkeiten in Atlantis gehört hatte. Gleich am Flughafen gab er bei der Einwanderungsbehörde seinen noch in England ausgefertigten Gesundheitspass zur Prüfung ab. Auch er musste eine halbe Stunde in einem kleinen Raum warten, bis er abgeholt wurde. Im Gegensatz zu vielen afrikanischen und asiatischen Herkunftsländern wurde sein Gesundheitspass von den Behörden von Atlantis anerkannt. Trotzdem musste er zur Kontrolle eine Blutprobe abgeben.
Schon Monate vor seiner Einreise hatte er den Fragebogen im Internet ausgefüllt, seinen Wunschberuf angegeben und ein Wohngrundstück beantragt, das er dann auch zugewiesen bekam. Atlantis machte Experten wie ihm geradezu den Hof, denn die Stadt konkurrierte hart mit Kanada, USA und der EU um die gut ausgebildeten Ingenieure und Fachkräfte.
Er wurde vom leitenden Kommissar der Einwanderungsbehörde in seiner Heimatsprache mit einem herzlichen Willkommensgruß empfangen. Sie saßen in seinem Büro an einem kleinen Besprechungstisch. „Was stellen Sie sich genau vor bei Ihrem Aufenthalt in Atlantis?“, fragte der Kommissar. Diese Frage hatte Calvin erwartet und sagte, obwohl er sich selbst seiner Wünsche und Vorstellungen nicht sicher war: „Ich möchte hier alt werden und bis dahin würde ich gerne als Software-Entwickler arbeiten, vorzugsweise für die Steuerungstechnik an Solaranlagen.“ Obwohl der leitende Kommissar Calvins Internetbewerbung wörtlich kannte, fragte er weiter: „Wo haben Sie zuletzt gearbeitet?“
„Bei der Spielesoft in London.“
„Hier ist Ihr Vertrag für die Übernahme des Wohngrundstücks. Sie können sich das Grundstück und Ihr neues Domizil gerne ansehen, bevor Sie endgültig unterschreiben.“
„Danke, nicht nötig“, erwiderte Calvin süffisant. Er hatte es über das Internet mehrfach von allen Seiten begutachtet, man konnte sogar dreidimensional in das Innere des Wohngebäudes sehen und seine Lage in der Stadt beliebig zoomen. Er hatte auch schon die zwanzigprozentige Anzahlung im Voraus überwiesen. Calvin unterschrieb den Vertrag.
„Wo wohnen Sie eigentlich?“, erkundigte er sich jetzt in freundlicherem Ton bei dem Kommissar.
„Siebte Süd und Dreiundzwanzigste West, circa drei Kilometer von Ihrem Grundstück entfernt.“
„Dann können wir uns ja mal treffen.“
„Ja, dann könnte ich direkt noch was von Ihnen lernen.“ Der Kommissar wusste, dass Calvin als Software-Experte fast das Doppelte von ihm verdienen würde.
Calvin grinste: „Na dann, bis bald.“


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